Kinderorthopädie
Zahlreiche Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems, welche bereits im Kindesalter auftreten, verursachen kaum oder keine Beschwerden. Durch den Wachstumsprozess nehmen Fehlstellungen jedoch häufig zu und verursachen schließlich im Erwachsenenalter einen frühzeitigen Verschleiß bzw. Funktionsverlust. Durch gezielte Versorgung sowohl konservativ (ohne Operation) als auch mittels operativer Korrektur können häufig mit geringem Aufwand spätere Beschwerden abgewendet werden. Daher spielen Früherkennung und regelmäßige Kontrollen, besonders im Wachstumsschub, eine große Rolle.
Eine übermäßige X- oder O-Bein Stellung stellt neben ästhetischen Gesichtspunkten einen Risikofaktor für die Entwicklung von vorzeitiger
dar. Auch ein übermäßiger Beinlängenunterschied verursacht eine höhere Belastung für das Achsenskelett und kann zu vorzeitigen Wirbelsäulenbeschwerden und sogar strukturellen Veränderungen führen.Das bei Kindern noch vorhandene Wachstumspotential kann hier gezielt zur Wachstumslenkung genutzt werden, indem die entsprechenden Wachstumsfugen vorrübergehend oder dauerhaft blockiert werden, was über die Zeit eine Korrektur der Fehlstellungen bzw. einen Längenausgleich bewirkt. Für die Kinder ist damit meist nur ein kurzstationärer Aufenthalt verbunden.
Abb. Links: Röntgen beider Beine eines 13-jährigen Jungen mit valgischer Beinachse (X-Beinstellung). Die Beinachse (sog. Mikulicz-Linie, blaue Linie im Bild) verläuft vom Hüftkopf bis ins Sprunggelenk. Die Kniemitte (rotes Kreuz) liegt nicht auf dieser Linie. Dadurch kommt es zu einer erhöhten Belastung der Knieaußenseite.
Abb. Mitte: Wachstumsfugen am Kniegelenk, von denen 70-80% des Längenwachstums am Bein aus geht. Im Erwachsenenalter sind diese nicht mehr zu sehen.
Abb. Rechts: Ein Jahr nach Operation, in welcher die Wachstumsfuge durch zwei Plättchen jeweils an der Beininnenseite blockiert wurde. Das Wachstum geht jetzt nur noch von der Außenseite aus, wodurch die Beine gerade werden. Die Kniemitte liegt nun auf der Beinachse.
Von einer Hüftdysplasie spricht man, wenn eine nicht ausreichende Überdachung des Hüftkopfes durch eine zu spärlich entwickelte oder steil gestellte Hüftpfanne oder einen zu steilen Schenkelhals (Coxa valga) besteht, was neben Bewegungseinschränkungen eine frühzeitige
bedingen kann.Abbildung links: Normal entwickeltes Hüftgelenk
Abb. Mitte: Das Dach der Hüftpfanne ist unzureichend ausgebildet (blauer Pfeil). Je größer der Defekt ist, desto größer ist die Warscheinlichkeit, dass der Hüftkopf nach oben teilweise oder ganz disloziert (luxiert).
Abb. rechts: Durch die des Pfannendaches entsteht eine frühzeitige Abnutzung und Deformation des Hüftgelenkes ( ).
Seit Einführung der gesetzlich vorgeschriebenen Neugeborenenhüftvorsorgeuntersuchung bis zur 3. Lebenswoche sind schwere Fehlentwicklungen des Hüftgelenkes, sog. Hüftdysplasien, selten geworden, da eine frühzeitige Behandlung in einer Beuge-/Spreizsschiene/-bandage oft schon eine ausreichende Hüftentwicklung gewährleistet. Dennoch gibt es Restdysplasien oder therapieresistente Fehlentwicklungen, u.a. auch im Rahmen von neurologischen Grunderkrankungen, welche einer operativen Behandlung bedürfen.
Wird eine Hüftdysplasie trotzdem zu spät erkannt, oder lässt sich das Defizit der Pfanne nicht durch eine Spreizschiene korrigieren stehen operative Möglichkeiten durch Umstellungen am Oberschenkelknochen, an der Hüftpfanne oder auch in Kombination zur Verfügung. Diese sind abhängig vom Lebensalter zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und sollten in der Regel vor dem Schuleintritt abgeschlossen sein. Für die Kinder bedeutet das meist eine notwendige Entlastung am operierten Bein für ca. 6 Wochen an Unterarmgehstützen.
Abb. Links: 7-jähriger Junge mit Hüftdysplasie beidseits bei zu großem Winkel zwischen Oberschenkelhals und –schaft. Die Kraftübertragung vom Oberschenkel in das Becken findet sehr weit oben in der Hüftpfanne statt (roter Bogen), die dort stark beansprucht wird.
Abb. Mitte: Durch die Umstellungsoperation des rechten Oberschenkels wurde der Winkel zwischen Schenkelhals und –schaft verkleinert.
Abb. Rechts: In einer zweiten Operation wurde der linke Oberschenkel umgestellt und am rechten das Material wieder entfernt. Beide Winkel entsprechen nun dem Normalzustand. Nun findet die Krafteinleitung vom Oberschenkel in das Becken zentraler in der Hüftpfanne statt.
Durchblutungsstörungen des Hüftkopfes (Morbus Perthes) werden typischerweise zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr auffällig und treten bei Jungen ca. 4x häufiger auf als bei Mädchen. Häufig beklagen sich die Kinder über Knieschmerzen oder sie entwickeln ein Entlastungshinken am betroffenen Bein. Die Ursache der Durchblutungsstörung ist hierbei noch nicht gänzlich geklärt. Sie verursacht jedoch ein Absterben (Nekrose) des Hüftkopfes.
Die Erkrankung des Hüftkopfes verläuft in Stadien. Am Anfang steht die Auflockerung des Hüftkopfes, eine Art zerfall. Anschließend folgt die Auflösung bis hin zur Reparation, in welcher sich der Hüftkopf neu formiert. Hierbei nimmt er im schlimmsten Fall jedoch nicht wieder seine ursprüngliche Form an, sondern deformiert.
Neben einer notwendigen regelmäßigen Physiotherapie zum Erhalt der Beweglichkeit und der regelrechten Hüftkopfreparation können bei besonders schweren Verläufen operative Maßnahmen zur besseren Überdachung des Hüftkopfes (sog. Containment) mittels Umstellung am Oberschenkel- und Beckenknochen notwendig werden. Die operativen Prinzipien entsprechen hier der Dysplasiebehandlung (s. Hüftdysplasie).
Trotzdem kann es im schlimmsten Fall zur Fehlentwicklung bzw. zur Destruktion des Hüftgelenkes und damit einer frühzeitig notwendigen endoprothetischen Versorgung führen.
Der Hüftkopfabrutsch (Epiphysiolysis capitis femoris = ECF) ist durch eine Lösung der Wachstumsfuge des Hüftkopfes vom Schenkelhals gekennzeichnet. Die Ursache ist auch hier nicht gänzlich geklärt. Vorwiegend betroffen sind stämmige Kinder im präpubertären Wachstumsalter (ca. 9.-11.Lebensjahr) und ca. 3x mehr Jungen als Mädchen. Diskutiert werden hormonelle Einflüsse, oft wird ein Bagatelltrauma oder eine Überlastung als ursächlich angesehen, was wissenschaftlich nicht bewiesen ist.
Unterschieden werden abhängig von der Symptomatik eine verzögerte (ECF lenta) und eine akute (ECF acuta) Form, wobei der akute Abrutsch mit raschen und starken Beschwerden im Sinne von Schmerzen und Bewegungseinschränkung einhergeht. Aufschluss gibt das axiale Hüftröntgenbild oder in unklaren Fällen (lenta Form) das
. Der akute Abrutsch stellt einen orthopädischen Notfall dar und sollte umgehend mittels Drahtspickung versorgt werden, um einem vollständigen Abrutsch und damit Absterben des Hüftkopfes vorzubeugen. Da es in 50% der Fälle im Verlauf auch zum Abrutschen der Gegenseite kommen kann, wird diese in gleicher Sitzung prophylaktisch mitversorgt. Bei der verzögerten Form ist die operative Versorgung vom Abrutschwinkel abhängig. Notwendig ist hier mindestens eine Entlastung des betroffenen Beines. Die lenta Form kann jederzeit in die acuta Form übergehen. Die Drahtspickung muss bis zum Wachstumsabschluss regelmäßigen Röntgenkontrollen und, wenn nötig, einer Neuanlage unterzogen werden.Abb. links: Röntgen des Hüftgelenkes eines 10-jährigen Jungen, welcher wegen akuten Hüftschmerzen nicht mehr laufen konnte und vom Kinderarzt in die Notaufnahme überwiesen wurde. In der axialen Aufnahme sieht man die Epiphysenlösung der rechten Hüftkopfes (rote Kante) im Vergleich zur Gegenseite.
Abb. Mitte: Vergleichsbild der linken Hüfte des selben Jungen.
Abb. rechts: In der Operation wurde nach geschlossener Reposition der rechte sowie prophylaktisch der linke Hüftkopf am Oberschenkelhals fest gespickt. Die Drähte verletzen dabei nicht die Wachstumsfugen (blaue Linie), sodass das Wachstum hier normal weiter verläuft. Anschließend durfte der junge Patient das rechte Bein an Gehstützen für 6 Wochen nur teilweise belasten.
Fehlentwicklungen oder Fehlstellungen der Wirbelsäule (übermäßige Buckelbildung = Kyphosen bzw. Verdrehungen = Skoliosen) können abhängig vom Schweregrad und den Symptomen konservativ oder operativ behandelt werden. Konservative Möglichkeiten (ohne Operation) sind z.B. die intensive Krankengymnastik oder ein individuell angefertigtes Stützkorsett. In schwerwiegenden Fällen erfolgt die operative Therapie durch die Korrektur der Wirbelsäule. Hierbei gilt grundsätzlich, je jünger ein Patient mit einer Fehlbildung ist und je schwerwiegender die Abweichung von der physiologischen Formgebung, desto intensiver sollte die Behandlung erfolgen. Folgen einer stark ausgeprägten Fehlstellung können z.B. am Brustkorb relevante funktionelle Einschränkungen der Atemmechanik des Brustkorbes oder einen vorzeitigen Verschleiß der Bandscheiben und Zwischenwirbelgelenke verursachen. Auch leichte Fehlstellungen können unbehandelt zu chronischen Schmerzen im Erwachsenenalter führen.
Bei Klumpfüßen handelt es sich um angeborene Fehlbildung eines oder gar beider Füße, welche bereits oft im Ultraschall beim Embryo erkannt werden können.
Wurden diese Fehlbildungen früher aufwändig operativ versorgt, steht heute ein international anerkanntes modernes Therapieverfahren zur Verfügung, welches deutlich bessere Langzeitergebnisse liefert, die Ponseti Methode. Hierzu sind in der Regel bereits am 2. Tag nach der Geburt wöchentliche manuelle Korrekturen der Fußstellung mit anschließenden Gipsruhigstellungen in der erreichten Korrekturposition bis zur Normalisierung der Fußform notwendig. Da das Fußskelett beim Säugling noch relativ flexibel ist, verursacht diese Behandlung beim Kind keine Schmerzen. Gelegentlich muss am Ende noch die Durchtrennung der Achillessehne in örtlicher Betäubung durchgeführt werden. Bis zum Abschluss des dritten Lebensjahres werden dann Lagerungsschienen angepasst, die für drei Monate ganztägig, und dann nur noch zur Nacht getragen werden müssen, um Rückfälle zu vermeiden. In den meisten Fällen kann so ein nahezu normales Gangbild erreicht werden.
Eine weitere Erkrankung des Fußes im Kindesalter ist der kindliche, flexible Knick-Plattfuß. Dieser wird etwa bis zum Abschluss des Grundschulalters mit regelmäßiger Fußgymnastik und ggf. Einlagen behandelt. Bestehen weiterhin Schmerzen bei Belastung kann die Implantation eines Platzhalters (Sinus tarsi Spacer) im Rückfuß zwischen Sprung- und Fersenbein bis zum Abschluss des Wachstums sinnvoll sein. Dies dient während des Wachstums der Aufrichtung des Fußlängsgewölbes und damit der Korrektur des Knickfußes.
Abbildung: Seitliches Röntgen des Fußes eines 11-jährigen Kindes. Der Sinus tarsi Spacer wird in den natürlichen Hohlraum zwischen Sprung- und Fersenbein eingebracht (Sinus tarsi), wodurch sich die Knickstellung korrigiert. Bei diesem schonenden Eingriff bleibt der Knochen unverletzt, die Beweglichkeit des Fußes erhalten und das Kind kann direkt nach dem Eingriff wieder normal auftreten.